Der Eidgenosse in Berlin

1911–1912

Ausschnitt aus der Autobiographie

Lesedauer ~20 Minuten / Originalskript als PDF (16.3 MB)

Herr Eidgenosse nannte mich Herr Reichmann, der Inhaber und Chef der Stickereifirma, die mich als Zeichner hatte aus der Schweiz kommen lassen. Mich allein nannte er so, trotzdem wir drei und später sogar vier Schweizer in der Bude arbeiteten, vielleicht weil ich rauh und braun gebrannt gerade aus der Rekrutenschule kam und so von den andern, akklimatisierten wesentlich abstach. Dieser Chef, ein stattlicher Jude mittleren Alters, hatte von Anfang an grosse Stücke auf mir, weit grössere, als ich meiner Arbeit nach verdiente. Er hielt mir auch bis zum Schluss die Treue, indem er mir 13 Monate später ins Abgangszeugnis schrieb, dass er mich jederzeit wieder anstellen werde, wenn ich nach Berlin zurückkehre. Er hatte überhaupt einen Stolz auf uns, und wenn er einen Kunden durchs Geschäft führte, zeigte er ihm immer quasi als Hauptattraktion unsere Zeichenbude mit der Bemerkung, «alles Leute aus der Schweiz!» Den Ausdruck Schweizer brauchte man für uns nicht gern, weil er etwas ganz anderes bedeutete, nämlich Melker, Küher.

Das Personal der Firma Reichmann, Berlin: der Meester (Meister) sitzend, Paul Gmünder 3. von rechts
Entwurf zu einer Textilzeichnung (1911)

Unser Zeichnerchef, der Meester genannt, war auch ein Appenzeller wie ich. Er hiess Zellweger, war im Beruf enorm tüchtig, aber früher ein Sumpfhuhn und Hurenbub gewesen, hatte sich aber aufgefangen und war sogar sparsam, weil er nächstens heiraten wollte. Trotzdem erzählte er gern und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen von jenen Zeiten. Sonst die Gutherzigkeit selber, half er mir unerfahrenem Hirtenknaben, wo er nur konnte. Ich lernte in der Folge auch seine Braut kennen, und er erzählte uns einmal, wie er zu seiner Dicken gekommen sei. Sie hätten, wie jeden Sommer, einen Geschäftsausflug planiert, für sämtliche Angestellten und die Arbeiterinnen. Dann hätte das Zeichenbureau darüber disputiert, welcher Dame der Meester den Kavalier machen müsse, der kleinsten, der grössten, der dünnsten oder der dicksten. Sie hätten ihm die dickste angehängt, des Spasses wegen, aber aus dem Spass sei Ernst geworden. Seine Dicke habe es fertig gebracht, ihn zum soliden Menschen umzukrempeln. Statt sich herumzutreiben, sammelte er jetzt mit Eifer Briefmarken, und es hiess sogar, er habe Geld im Geschäft angelegt, sei also quasi dran, Teilhaber der Firma zu werden.

Der andere Schweizer war Züribieter. Er hiess Weiss und war im Vorstand des Schweizervereins. Von Charakter war er das Gegenspiel des Meesters, schwerblütig und zu Depressionen geneigt, litt unter dem Eindruck, dass seine Arbeit zu wenig geschätzt sei und dass er hier im Geschäft beruflich nicht weiterkomme. Er wohnte mit seiner Geliebten zusammen, einem hübschen und intelligenten Mädchen, wagte aber nicht, sie zu heiraten. Beide zusammen verdienten genügend, während der Standard des Haushalts, so, wie er ihn von der Schweiz her gewöhnt war, mit seinem Verdienst allein einfach nicht einzuhalten war. Der Arme spielte mit dem Gedanken, alles im Stich zu lassen und in der Schweiz zu verschwinden. Ich konnte ihm glücklicherweise diese für beide Teile gleich katastrophale Lösung des Problems ausreden. Für mich schien sie einfach eines senkrechten Schweizers unwürdig.

Bei unsern Berlinern, von denen drei in unserm Atelier beschäftigt waren, zwei ledige Jünglinge und eine Frau, schien die Grundeinstellung zum Problem Liebe eine andre. Braut bedeutete für sie einfach die derzeitige Geliebte, ohne sexuellen Einschlag gar nicht zu denken und hatte nichts mit Hochzeitsversprechen zu tun. Jeder Ledige hatte eine Braut und an Keuschheit, weder beim Jüngling noch bei der Jungfrau, glaubte niemand, wähnte vielmehr eine unnatürliche Veranlagung dahinter. Da eine starke moralische Bindung demgemäss nicht bestand, nahmen sie es auch mit der Treue nicht genau. Diese Mentalität erschreckte mich anfangs, ja, ich konnte mich nie recht daran gewöhnen, und sie war mit ein Grund, dass ich mir nicht vornahm, allzulange in Berlin zu bleiben. Wir hatten als letzten auch noch einen Sachsen, da ja Sachsen viel Stickerei produzierte. Dass ich mit ihm in nähere Beziehung kam, hatte seinen besonderen Grund. Man wusste von mir, dass ich photographiere. Nun bat mich der Sachse, zu ihm zu kommen und seine Wohnung aufzunehmen, da er nächstens umziehe und gerne ein Bild seines ersten Heimes hätte. Wir kannten alle seine Geschichte, da er ausgesprochen redselig war und mit seinen Schwächen gern renommierte. Sie begann damit, dass er für einen unehelichen Buben Alimente zahlen musste, was ihm sehr zuwider war, da er wenig verdiente und dazu unsolid lebte. Als nun seine Geliebte zum zweiten Mal ein Kind erwartete, musste er mit doppelten Alimenten rechnen. Das brachte ihn zum Entschluss, seine Braut zu heiraten, verdiente sie doch mit Heimarbeit als Näherin auch noch ein gutes Stück Geld. Dafür aber musste er ihr versprechen, eine Zweizimmerwohnung zu suchen und zu mieten, was ihm eben jetzt gelungen war. Ich war erschüttert, als ich die Elendswohnung sah, in der die dreiköpfige Familie wahrscheinlich schon Monate gelebt hatte. Ein Gang nur, 2m zu 4m, hatte als Küche, Nähatelier, Wohn- und Schlafraum zu dienen. Ein Tisch hätte keinen Platz gehabt. Man ass, auf dem Bettrand sitzend, vor einer Kiste – es war ein Milieu, wie es Zille in jener Zeit so treffend dargestellt hat. Für meine Photo hatte unser Sachse ein prachtvolles Plakat gezeichnet mit der Aufschrift Mein erstes Heim, und das hängte er nun so auf, dass es mitten über dem Elend schwebte und bewirkte, dass sich mein Bild noch recht schmuck präsentierte.

Im Geschäft waren er und die zwei Berliner nur Stecher und Pauser, d.h. sie mussten unsere Zeichnungen auf einer Maschine nachstechen und auf die Stoffe pausen und die schon oben genannte Frau, die wir mit Mutter ansprachen, obgleich sie keine Kinder hatte als uns und zeitweise nicht einmal einen Mann, funktionierte ständig mit dem Glätteisen, ich weiss nicht mehr zu welchem Zweck. Mich bemutterte sie sehr, anfangs wegen den Gefahren, in denen sie mich unschuldiges Bürschlein wähnte, später aber umgekehrt aus Besorgnis, dass ich mich zu sehr zurückziehe und vor allem mein Mannsein vergesse. Alle waren viel schlechter entlöhnt als wir Schweizer, aber im Verkehr untereinander gab es keinen Rangunterschied. Am Samstagnachmittag im Sommer gingen wir gemeinschaftlich zum Familienbad nach Wannsee hinaus. Wer Frau oder Braut hatte, liess diese auch hinkommen. Das Gemeinschaftsbad war damals auch für die Grossstadt noch etwas Neues, aber war schon ungemein populär und die Vorstadtzüge waren bei günstigem Wetter überfüllt. Ob es schon Kabinen zum Ausziehen gab, weiss ich nicht mehr, wir haben wenigstens nie welche benützt. Hinter dem riesigen Sandstrand war herrlicher Föhrenwald. Wir von der Zeichenbude mit unseren Bekannten hatten immer unsern gleichen Platz nebenaus. Wir spannten geweilen ein Seil um vier Stämme und hängten unsere Trockentücher daran, dass ein Zelt entstand, in dem sich unsere Damen ausziehen konnten und wo wir auch unsre Kleider unterbrachten. Natürlich musste dann jemand von uns Wache stehen, während die andern im Wasser waren. Die Frauen und Mädchen trugen Badkleider bis über die Knie, und unser Meester fand es äusserst genierlich, wenn wir jüngern Männer nur in Badhosen antraten. Sönnelen war noch nicht Mode. Man zog sich nach dem Bad sofort in den Wald zurück, um nicht braun zu werden; denn reinweisse Haut galt als schön.

Paul Gmünder am Müggelsee in Berlin (1911)

Etwas weniger harmlos war das Rundespenden. Wenn einer von uns Geburtstag hatte, so musste er eine Runde Bier spenden. Man ging nach Geschäftsschluss, ohne vorher etwas zu essen, hinunter in Aschingers Stehbierhalle. Aber mit der einen Runde war’s gewöhnlich nicht getan. Zwar war das Weissbier, das man damals in Berlin trank, nicht sehr stark, aber in den leeren Magen getrunken, Schale um Schale, wirkte es doch, und es kam hie und da vor, dass man den einen oder andern heimbegleiten musste. Ich hielt mich natürlich zurück, weil ich nur beobachten wollte, und es war wohl gut, dass ich diese Art männlicher Geselligkeit, die in jener Zeit sehr viel allgemeiner war als heutzutage, in solch gelinder Form kennen lernte.

Wer die Berliner kennt, der weiss, dass sie in einer Beziehung den Appenzellern verwandt sind: Sie haben ausgesprochen Sinn für Humor. Sie brachten gern Witze vor und hörten gern zu, wenn man solche erzählte. Noch mehr goutierten sie aber geistesgegenwärtige, schlagfertige Antworten und das Sich-Retten aus knifflichen Situationen, wie z.B. im Falle Knauft. Dieser Knauft, ein blonder Jüngling aus unserer Bude, hatte seit einiger Zeit mit dem schwarzen Teufel, einer schwarzlockigen Dame aus der Spedition, angebändelt. Als er nun einmal nach Geschäftsschluss fröhlich mit ihr flirtend die Treppe hinabstieg, stand unten seine Braut mit fragendem Blick – er, unverfroren, stellt seiner Braut den schwarzen Teufel als seine Schwester vor. Das Verhängnis wollte, dass die ganze Kollegschaft Zeuge war und der Ausdruck Knaufts Schwester fortan bei uns zum geflügelten Wort wurde.

Viel Vergnügen machte ein Unfug, den die Berliner veräppeln nannten. Ich lernte ihn schon in den ersten Tagen kennen. Das Klingelzeichen zum Beginn der Arbeit war schon gegeben, als ich mit meinem Massstab den Kollegen vorführte, wie man in der Schweiz auf Kommando das Gewehr schultert. Da geht die Türe auf und ein Herr fährt mich an: «Haben wir Sie deshalb aus der Schweiz kommen lassen, dass Sie hier Allotria treiben, anstatt zu arbeiten?!» Ich möchte natürlich vor Scham in den Boden versinken, während merkwürdigerweise meine Kollegen grinsen. Nachher stellt sich heraus, dass der hochfahrende Herr unser Hausdiener gewesen war. Dieser Ulk des Nasführens erreichte bei uns eine Art Hochzüchtung, weil auf die bescheidene Form keiner mehr hereinfiel.

Da war z.B. die Sache mit unserm braven Knauft, den wir schon kennen. Er war es selber, der uns die Idee gab. Als der Meister für einige Stunden sich vom Geschäft entfernte, ohne uns einen Grund anzugeben, kam unser Knauft auf die Idee, jener wolle die Stelle wechseln. Nicht nur das, sondern er äusserte die obstruse Meinung, er, der doch nur Stecher war, würde in diesem Fall als Meister nachrücken. Unser Plan, den vorwitzigen Kollegen zu veräppeln, war einfach: wir mussten ihn vorsichtig in seiner Einbildung belassen, ja, diese über Wochen hin zur absoluten Sicherheit verstärken. Dass der Meester selber sich ausschwieg, war unverdächtig. Am Ultimo dann, der auf einen Samstag fiel, lud jener uns zu einem Zusammensein, bei dem jeder mit seiner Braut erscheinen sollte. Dem betreffenden Wirt übergab man eine grosse Schachtel für einen Herrn Knauft, der nach uns fragen werde. Der Kollege muss seinen Reinfall sofort gemerkt haben, als er diese Schachtel sah, kannten wir sie doch alle nur zu gut. Es war nur ein Stück Kette drin, daran ein Karton mit der Aufschrift «Das ist die Kette, an der wir dich durch den Dreck gezogen haben.» Es war bestimmt, dass der Verulkte sie solange behalten musste, bis er von einem Neuhereingefallenen abgelöst wurde.

Dass auch ich früher oder später einmal werde dran glauben müssen, war vorauszusehen. Die Sache wurde aber zur Blamage für die Kollegen, statt für mich. Ich erhielt von einem Mädchen einen Brief, in welchem dieses mich zu einem Rendezvous bat. Was meinen Verdacht erregte, war die zögernde, sogar leicht korrigierte Unterschrift. Als ich anhand einer Stadtkarte feststellen konnte, dass die angegebene Adresse nicht stimmte, war ich sicher, dass es sich um einen Scherz handelte und dass meine Kollegen dahinter waren. Meine Taktik, zu erreichen, dass sie sich selber blossstellen mussten, war einfach: ich schwieg und brachte so die andern zum Reden, denn sie mussten von mir erfahren, ob ich den Brief überhaupt bekommen hatte. «So ein Aas!» sagte der Meester, als ich alles aus ihnen herausbekommen hatte.

Der Meester, der übrigens der Anzettler solcher Spässe war, wurde bald darauf selber eingeseift und zwar so raffiniert, dass er über seinem Hereinfall für ein paar Tage die Sprache verlor und nur noch knurrte – item, wenn ich die Atmosphäre meines Arbeitsplatzes in Berlin mit derjenigen vergleiche, in der ich später in St. Gallen arbeitete, kommt es mir im Rückblick vor wie Tag und Nacht, und wenn ich später in meinem langen Lebenswirken immer wieder versuchte, eine frohe und unbeschwerte Atmosphäre zu schaffen, indem ich meinen eignen Humor spielen liess, so steht das Erlebnis jener Berliner Zeichenbude dahinter.

Der Eidgenosse in Berlin – der Titel dieses Kapitels bewog mich dazu, meine dortigen Arbeitsverhältnisse an den Anfang zu stellen. Sonst hätte die Überschrift lauten müssen: Herr Jemünda in Berlin, denn so hiess ich sonst. O, diese Sprache! Bis wir einander verstanden! Ich sie und sie mich! Doch ich fange am besten ganz von vorne an. Nämlich schon der Anfang war natürlich eine Katastrophe. Denn als ich mit meinem Herisauer Heimatschein vor der Einwohnerkontrolle erschien, um mich nach Recht und Brauch anzumelden, wollte der Beamte wissen, aus welcher Schweiz ich stamme, aus der bayrischen, sächsischen oder thüringischen, und er wollte lange nicht glauben, dass es eine Schweiz gebe, unabhängig von Deutschland. Mein Hochdeutsch, das er fast nicht verstehen konnte, mag ihn zuletzt doch davon überzeugt haben, dass meine Schweiz nicht ein Teil von Deutschland sein könne. Drei verschiedene religiöse Zirkel waren von der Ankunft des jungen Schweizers und Predigersohnes avisiert: Mein Vater hatte sie einem alten Freund, Pastor bei der Stadtmission, gemeldet, der Ch.V.j.M. St. Gallen dem Ch.V.j.M. Berlin und Vorgänger im Geschäft der Methodistenkirche. Aber ich junger Schweizer und Predigersohn hatte ganz andere Ambitionen, als mich in diese Kreise einsperren zu lassen. Nicht mit Scheuklappen wollte ich die Strassen der Grossstadt durchwandern, sondern nach links und rechts beobachten, beobachten, beobachten. Schlüsse ziehen erst später, viel später. Mein besorgter Vater hatte recht, wenn er mir vorwarf, dass ich die Freiheit suche; denn ich suchte wirklich Befreiung, aber nicht die, welche er vermutete. Ach, die guten Väter haben es alle so, meinen, wenn sie dem Sohn eine rechte Erziehung, ja vielleicht sogar ihren Glauben beigebracht haben, genüge das und ziehen nicht in Betracht, dass ihr Sprössling sich seine Überzeugung selbst erwerben muss, indem er das von seinem Erzieher Empfangene mit den eigenen Erfahrungen konfrontiert. Herrliches Suchen der Jugend nach Wahrheit!

Fast wäre mir Unschuldsengel passiert, dass ich mein Zimmer im verrufensten Quartier ganz Berlins gemietet hätte, und ich meinen Bericht mit einem Thema beginnen müsste, das zum Unerfreulichsten dieser sonst sich so heiter präsentierenden Grossstadt gehört. Meine Zeichenkollegen waren entsetzt, als sie hörten, dass ich ausgerechnet in der Linienstrasse wohnen sollte. «Methodisten hin oder her – du machst die Sache rückgängig!» sagte der Meester entschieden. «Wir werden dir schon etwas finden.» Und wirklich hatten sie mir in wenigen Tagen ein Zimmer mit Pension zu bescheidenem Preis, nur 50 m vom Geschäft gelegen, wo ich während meines Aufenthalts in Berlin geblieben bin. Es war eine sogenannte sturmfreie Bude, d.h. mit Ausgang zur Treppe. Aber meine Wirtin, eine ehrwürdige Alte, erklärte sofort, dass Damenbesuche nicht in Frage kommen würden. «Für mich auch nicht!» gab ich beruhigend zur Antwort. Das Zimmer sei wanzenfrei und das einzige sonnige ihrer Wohnung. Wanzenfrei stimmte erstaunlicherweise, aber punkto Sonne, das war übertrieben, denn nur während zweier Monate wagten sich Sonnenstrahlen durch den Lichtschacht in mein Zimmer. An die neue Kost gewöhnte ich mich leicht und fand es vorteilhaft, durch die ganze Pension zu geregeltem Essen gezwungen zu sein. Vielleicht deshalb liess während der ganzen Zeit meine Gesundheit nichts zu wünschen übrig. Trotzdem die Hausfront gegen einen sehr belebten Platz und Tramknotenpunkt, den Molkenmarkt, im Zentrum der Stadt schaute, war mein Zimmer still. Ausser mir waren noch zwei Zimmerherren in der gleichen Pension, ein Württemberger und ein Rheinländer, mit denen ich häufig Skat spielte. Die Hinterhäuser mit ihren Höfen, der Krögel, galten als das älteste Berlin und wurden von den Fremden als Sehenswürdigkeit betrachtet. Diese gepflasterten Höfe waren die Spielplätze der Kinder. Hier spielten die Orgelmänner mit ihren sehr verschiedenartigen Instrumenten – von der einfachsten Drehorgel bis zur raffiniertesten Kombination mit Kesselpauke und Trommel – und wenn junge Leute herum waren, tanzten sie dazu. Die Fenster gingen auf, und die Frauen warfen ihre Groschen herunter. Sie waren beliebt, diese Orgelmänner. Sie brachten mit ihren Operettenschlagern etwas Poesie in die grauen Mauern und waren gleichsam ein Ersatz für die fehlenden Blumen. Auf der einen Seite schloss eine fast fensterlose Mauerwand den Krögel ab, deren Anschrift Hausvogtei daran erinnerte, dass dahinter einst Fritz Reuter im Gefängnis gesessen war. 25 Jahre später, als ich ein frohes Wiedersehen zu feiern hoffte, war all das verschwunden, abgerissen und ein riesiger Bretterzaun drum herum, sic transit gloria mundi, und nie wird eine Tafel mit der Aufschrift in diesem Hause wohnte während seiner Berlinerzeit der Schweizer Paul Gmünder mein Gedächtnis retten.

Vom Molkenmarkt führte die Strasse links über die Gertraudenbrücke am Wertheimer Warenhaus vorbei zum Potsdamerbahnhof. Ging man geradeaus, so kam man am roten Ratshaus vorbei auf den Schlossplatz mit dem Begasbrunnen, am kaiserlichen Schloss vorbei zum Lustgarten mit dem Dom und der Nationalgalerie. Bog man nach links ab, so kam man auf der berühmten Strasse Unter den Linden zum Brandenburger Tor und zum Tiergarten hinaus. Warum ich das alles schreibe? Vielleicht weil gerade diese Gegend, an die sich mir so manche Erinnerung knüpft und die der Stolz Berlins war, für das heutige Europa nicht mehr existiert, liegt sie doch in der russischen Zone – quasi hinter Gefängnismauern.

Wenn ich schon ins Politische abgeirrt bin, muss ich diese Gelegenheit benützen zu einem bescheidenen Versuch, ein wenig in dieses Gebiet hineinzuleuchten, soweit es mich damals interessierte. Von der deutschen Schweiz aus gesehen, lebte Deutschland damals in der vielbewunderten Ära Wilhelms des Zweiten, und dass wir den Kaiser selber hochschätzten, kam bei seinem Besuch in der Schweiz im Herbst 1912 fast nur zu deutlich zum Ausdruck. Die Berliner, an sich respektlos, zeigten wenig Hochschätzung für das Kaiserhaus und liessen höchstens noch den Kronprinzen gelten, weil er ihnen ständig Gelegenheit zu saftigen Anekdoten und schlechten Witzen gab. Es mag sein, dass die Kreise der Intelligenz den Kaiser in den Himmel erhoben – ich hörte den Vortrag eines Theologiestudenten über des Kaisers Kriegsschiffprojekte, dessen Ton mich direkt anwiderte, der aber sichtlich die Zuhörerschaft begeisterte, die zudem nicht einmal merkte, wie wenig das Thema zu einem zukünftigen Streiter Christi passte. Unsre Leute im Geschäft waren, wenn auch nicht organisiert, die Schweizer eingeschlossen, gegen den militärischen Pomp des Kaisers, ja gegen das Kaisertum überhaupt, gegen den Hurra-Patriotismus und für internationale Verständigung im Sinn der sozialdemokratischen Grundsätze. Sie schimpften auch weidlich auf Kirche und Religion, weil diese die Reichen stützten statt sich der Armen anzunehmen. Reichtum und Armut, Glanz und Elend! Zu jeder Grossstadt gehören sie, haben in jeder einen speziellen Ausdruck und nur grössere Zeitspannen vermögen das Bild zu ändern. Reichtum und Glanz gingen von den Fürstenhäusern aus. Sie zogen die grossen Talente an sich und stellten die Aufgaben. Ungeheure Summen wurden gespendet und daraus Werke von unvergänglichem Wert geschaffen. Man kann nicht sagen, dass die Ahnen Wilhelms II. nichts für die Kultur geleistet hätten, im Gegenteil, und das Schicksal wollte, dass die wertvollsten Bauwerke auch im letzten Krieg unversehrt blieben. Nicht so der jetzige Kaiser, obgleich er der Potentat auf dem europäischen Festland war. Man erzählte in Berlin, dass kein einziger namhafter Künstler an seinem Hofe verkehre als Karl Begas und dieser auch nur, weil seine Frau die Geliebte des Kaisers sei. Seiner Eitelkeit kam zu statten, dass er oberster Kriegsherr der deutschen Armee war, aber auf den Pomp und Prunk, den er bei seinem Militär entfaltete, fielen nur die Fremden und nicht die Berliner herein. Ihre bescheidenen Vergnügen waren zu dieser Zeit der Kintopp (Cinema), das Hallen-Radrennen und das Pferderennen, wo man schon mit 1 Mark Einsatz wetten konnte. Bei den Radrennen, die immer international besetzt waren, fiel auf, dass die Sympathie des Publikums stets den ausländischen Fahrern zukam. Schauspiel- und Opernhaus waren mir zu nobel. Es hiess sogar, man müsse im Frack erscheinen. Hingegen habe ich auf kleinern Bühnen doch einige Aufführungen gesehen, von denen ich stark beeindruckt war. Populärer war die Operette und das hatte seinen besonderen Grund. Sie lieferte die Schlager der Saison und diese hinwiederum kamen auf die Tanzbühnen. Diese Schlager wurden aber nicht, wie heute, von den Tanzkapellen gesungen, sondern von den Tanzenden selber, besonders eifrig von den Mädchen. Es schien in jenem Winter, als hätte sich das Schwergewicht der Operettenproduktion von Wien nach Berlin verschoben, kamen doch drei nigelnagelneue Operetten von Berliner Komponisten heraus. So hörte man schon im nächsten Frühling auf jeder der Tanzdielen des Grunewald, wo die Ausflügler und Liebespäärchen ihren Vespertrunk gerne mit einem Tänzchen verbanden, Ja, das haben die Mädchen so gerne etc. und Fräulein Schwindelmejer, Fräulein Schwindelmejer etc. Tanzen nannte man schwofen, und der Schwof war die grosse Leidenschaft in jenen Jahren der Sorglosigkeit. Solche Passionen suchen, wenn sie einen gewissen Höhepunkt erreicht haben, nach neuem Ausdruck. Heute würde man einfach neue Tanzformen erfinden. Damals dachte man eigentümlicherweise gar nicht daran, dass der Tanzschritt noch andere Kombinationsmöglichkeiten bot als die gewohnten, schon vom Urgrossvater getanzten Polkas und Walzer. Damals also entstand der Schieber, eine von den Apachen entlehnte, unmanierliche Art, die Tanzweise zu erotisieren, wie die Alten fanden und verpönten, ja verboten in den besseren Lokalen, dafür aber bei den Halbstarken – die gab es nämlich damals schon – umso beliebter.

Von bestimmten Anlässen und Feiern möchte ich gerne erzählen, aber wenig ist mir im Gedächtnis geblieben. So war ich zu einer Festversammlung des Schweizervereins eingeladen, sah den schweizerischen Gesandten und andere grosse Herren im Frack und Landwirtschaftsarbeiter in ungeschlachtem Halbleinen und hörte urchigstes Berndeutsch, Welsch und die angestrengten Versuche Langeingesessener, ihre Berlinersprache mit einigen schweizerdeutschen Brocken und Flüchen zu veredlen.

Dann ist mir eine Adventsfeier in der Methodistenkapelle in Erinnerung. Ich hatte mich nämlich für eine Produktion angemeldet – ich wollte es den Berlinern einmal zeigen… Man riet mir wegen meiner Aussprache entschieden ab, aber ich liess mich nicht ins Bockshorn jagen. Ich rezitierte ein unverschämt langes Gedicht, Seemanns Weihnachtsfeier. Atemlos horchte das Publikum zu – wohl, weil es einige Mühe hatte, mich überhaupt zu verstehen – dann aber je länger je mehr liess es sich mitreissen, man denke sich, fast zehn Minuten lang und der Applaus direkt ein Sturm. O, ihr Schweizer­schauspieler­hochdeutsch­sprecher von heute!

Eine Folge dieses Erfolges war, dass ich von verschiedenen Familien zu ihrer Christfeier eingeladen wurde, aber am Heiligen Abend wollte ich allein sein und zum 25. war ich schon von der Braut des Meesters eingeladen. War es mehr als eine romantische Allüre, dass ich den Heiligen Abend allein sein und in Heimwehstimmung an meine Lieben in der Schweiz denken wollte? Ein oder zwei Jahre später, als mich, wie wir später hören werden, die Dichteritis schüttelte, schilderte ich diese meine erste Weihnacht ausser Haus folgendermassen:

Weihnacht in Berlin

In fremder Stadt – allein – und Heilge Nacht!
Jetzt stehen sie daheim um lichte Pracht
und singen Lied dem Weihnachtskind zur Ehr
und sagen ihre Weihnachtsverslein her.
Der Vater nimmt das Bibelbuch zur Hand
und liest die Weihnachtsbotschaft allbekannt,
aus Lukas 2 – die Hände falten sich
und jetzt, ich weiss, jetzt denken sie an mich! –
Da bin ich aus meinem Traum ich jäh erwacht
in fremder Stadt – allein – in Heilger Nacht.

Schön, nicht wahr! Fast zu schön, um wahr zu sein! Wenigstens feierte ich den 25. Dezember mit meinem Meester, seiner Braut und deren Bruder, einem bescheidenen Berliner Schauspieler, der überglücklich war, einmal einen freien Tag zu haben, so fröhlich, dass er zu meinen schönsten Weihnachtserlebnissen zählt.

Eindruck machte mir auch, wie es Brauch war, dass sich in den ersten Stunden des neuen Jahres Bekannt und Unbekannt auf der Strasse ein frohes «Prost Neujahr!» zurief, während man sonst in der Grossstadt so gleichgültig aneinander vorbeigeht. Und dann das grosse Wecken unter den Linden, als es tagte! Ein riesiges Militärmusikcorps, die ganze Strassenbreite füllend, durchzog die Strecke vom Brandenburgertor bis zum Schloss musizierend, dass die Häuser widerhallten.

Ein andrer schöner Brauch, der wohl die nicht ganz verschwundene Verbindung der Grossstadt mit der Natur beweisen sollte, war der Pfingstmaien. Am Samstag vor Pfingsten durchzogen Bauernwagen alle Strassen, hoch beladen mit grünen Birkenästen, die sie den Bewohnern für ein paar Groschen das Reis verkauften. Am Pfingstmorgen prangte neben jeder Haustüre so ein Ast mit seinem frischen Grün und machte die grauen Mauern glauben, sie stünden mitten in einem Birkenhain – Wissenschafter werden den Brauch für einen alten Zauber erklären – mag dem sein, wie es will, mir schien’s liebenswert, dass meine sonst so realistischen und skeptischen Berliner hier einem naiven Frühlingszauber erlagen, für den es keine wissenschaftliche Begründung braucht.

Auch sonst merkte man, dass es Frühling wurde. In den Laubenkolonien an den Peripherien der Stadt stülpten sich die Herren der Schöpfung kühn die Hemdärmel auf und spateten und setzten Kartoffeln oder flickten ihre gebrechlichen Hütten. Der Tiergarten, der grosse Wald inmitten des Häusermeers, mit seinen vielen Ruhebänken war tags wieder besetzt mit Ammen in Spreewäldler Tracht und Kinderwagen und auf den freien Sitzplätzen sonnten sich die Kunden, die Landstreicher und Tagediebe. Stramme Offiziere galoppierten über die Reitwege, gefolgt von ihren Burschen. Abends dann die Invasion der jungen Liebespaare, die vergebens ein einsames Eckchen suchten, dass ich einsamer Eidgenosse mir nun wirklich verlassen und melancholisch vorkam.

Vermessen wäre, wenn ich behaupten wollte, ich hätte auch das Elend kennen gelernt, das nun einmal zu jeder Grossstadt zu gehören scheint und das mir, auch ohne dass ich mich Gefahren aussetzte, in einer seiner übelsten Formen entgegentrat, als ich mit einem das Nachtleben gewohnten Kollegen den Krug zum grünen Kranze besuchte, bekannt als die vornehmste der vielen Wirtschaften mit Damenbedienung. So harmlos diese Bezeichnung dem Fremden und besonders dem Schweizer in den Ohren klingen mag, so unmenschlich war die Sache selber. Man muss nämlich wissen, dass es in Berlin damals nur Kellner gab und keine Kellnerinnen. Damenbedienung hiess Animierdamen, hiess, dass diese Damen jeden Abend und sogar bis zwei Uhr nachts mit den Herren trinken mussten und zwar möglichst viel und möglichst Teures, Wein und Schnaps, denn ihr Verdienst wurde in Prozenten vom Gesamtkonsum gerechnet. So war auch unsre Dame eine nicht unhübsche zirka 30-jährige Frau, schon erheblich angestochen, als wir nach Mitternacht das Lokal betraten. Wir bezahlten ihr eine Schwette Selterswasser, damit sie etwas nüchterner werde. Als sie merkte, dass wir Mitgefühl für sie hatten, fing sie an zu jammern, sie habe heute einen schlechten Tag gehabt, ein Gast sei ihr durchgebrannt und sie habe deshalb viel Schaden gehabt und fast nichts verdient. Bald trank sie wieder Bier, rutschte uns auf den Knien herum und wollte uns kirre machen, damit wir nach Wirtschaftsschluss noch mit ihr aufs Zimmer kämen.

Eine andre Form von Grossstadtelend war das der Kunden, der Vagabunden und Handwerksburschen, kurz abendlichen Besucher des Obdachlosenhauses. Oft stand ich in der Nähe des Eingangs und beobachtete die abgerissenen und nicht selten verkommenen Gestalten. Dass ich ihnen bald einmal Kaffee servieren würde, wäre mir freilich nicht im Traum vorgekommen. Das kam so: Ich besuchte nach längerem Zögern endlich einmal den Pastor Figge von der Stadtmission. Der gefiel mir, er wusste mit christlichem Glauben etwas anzufangen. Als er bemerkte, dass ich mich für seine soziale Arbeit interessierte, spannte er mich sogleich ein. Jeden Sonntag um 9 Uhr betreute er die Schrippenkirche, zu der die Obdachlosen eingeladen wurden. Auf der Empore wurde ein Frühstück serviert, Milchkaffee und Schrippen (Wecken mit Butter belegt), und da half ich also hie und da beim Servieren mit. In einer kurzen Ansprache suchte sodann Herr Figge – nicht als Pastor, sondern von Mensch zu Mensch – seine entwurzelten Brüder zu überzeugen, dass auch sie sich wieder emporarbeiten könnten und dass ihnen die Stadtmission helfe, wenn es ihnen wirklich ernst sei. Es meldeten sich dann auch immer einige und es war oft der Fall, dass sie in ein geregeltes Leben zurückgeleitet werden konnten. Einmal war der brave Pastor sehr niedergeschlagen, als ich ihn besuchte. «Sachen gibt’s», sagte er schliesslich, «die auch unsereinen umlegen, und wir sind doch allerhand gewohnt. Vorhin sah ich ein Mädchen an der Strassenecke stehen, sicher nicht mehr als 13 Jahre alt und schon auf Männerfang.» «Kind», sag ich, «wie ist das möglich! weiss das deine Mutter?» Und das Mädchen erwidert frech: «Aber selbstverständlich! Sie steht dort an der andern Ecke und macht dasselbe wie ich.»

Ich sah ihn 25 Jahre später in der Schweiz wieder, diesen Menschenfreund, als er in Thun einen Vortrag hielt und Geld sammelte für sein Werk. Er war sehr schweigsam und niedergeschlagen und ich konnte ihm nachfühlen, wenn er schon kein Wort über Hitler sprach.

Jetzt aber wieder heitere Töne! Ich hatte, wie wir schon früher hörten, mich bald schon aufs Photographieren gestürzt. Das war aber damals nicht eine so simple Sache wie heute, vor allem wenn man, wie ich natürlich, keine Dunkelkammer hatte. Schon das Einlegen der Platte in die Kassette unter der Bettdecke brauchte Erfahrung. Man musste Fingerspitzengefühl haben, um Schicht und Glas unterscheiden zu können – und das war nur der Anfang einer langen Reihe von Manipulationen, wo man ausrutschen konnte, wenn man so unpraktisch war wie ich. Z.B. man glaubte, die schönste Aufnahme geknipst zu haben und musste mit Schrecken feststellen, dass der Kassettendeckel nicht aufgezogen und gar nichts auf die Platte gekommen war. Und wenn natürlich der erste Teil geglückt schien, kam der zweite schwierigere mit den Chemikalien, das Entwickeln und Fixieren, und man machte die beste Platte kaputt, indem man im Fixierbad entwickelte oder im Entwickler fixierte. Dann das Bad in der Waschschüssel statt im laufenden Wasser! Die Abzüge erst! Es ist wirklich ein Wunder, dass so etwa ein

halbes Dutzend unverfleckt und unverbleicht sich in unser Atomzeitalter hinübergerettet hat. Und erst die chemischen Flecken an meinen Handtüchern, über die sich meine brave Wirtin geärgert hat.

Solchermassen ist es verständlich, dass ich von der komplizierten Apparatur des Photokastens zum primitiven Bleistift zurückkehrte, dessen Handhabung zudem weniger kostete und die guten Beziehungen zu meiner Wirtin sicher nicht gefährden konnte. Mit Prospekten der alten Häuser des Krögels fing ich an. Dann zeichnete ich am Spreekanal die schwarzen Kohlenschiffe, bis mir die Finger steif wurden, weil der Winter kam. Jetzt nahm ich alle Courage zusammen zu einem Sprung nach vorwärts – wenn schon, von meinem Herkommen her betrachtet, eher einem Seitensprung: Ich meldete mich zu einem Aktzeichenkurs, wurde aufgenommen und zeichnete nun also während des ganzen Winters an drei Abenden pro Woche Akt auf Tod und Leben. Freilich nach Hause schrieb ich wohlweislich nur von einem Kurs im Zeichnen und dass er sehr interessant sei und dass ich auch viel lernen könne. Das war denn auch ungelogen, und bei meinem Eifer wars denn auch nicht erstaunlich, dass ich mir bald als einer der Besten vorkam. Wir arbeiteten mit Kohle auf Ingrespapier. Die Korrektur war gut, nicht zu streng und nicht zu lax, genau, was wir Anfänger nötig hatten. Es sind denn auch eine ganze Anzahl Blätter entstanden, die mir des Aufbewahrens würdig schienen, denen die Gnade widerfuhr, mit mir die Schweizergrenze zu überschreiten und die sogar ein gütiges Geschick davor bewahrte, dem Autodafé meines Vaters zum Opfer zu fallen wie die unglücklichen Reproduktionen nach bekannten Gemälden von Böcklin, Marées und Feuerbach, die der gute Mann als unsittlich taxierte und dem Feuer überantwortete, während ich im Militärdienst war.

Berlin war in jenen Tagen der Ort, wo sich, auch abgesehen von meinen künstlerischen Versuchen, einiges anbahnte, was gewichtige Folgen haben sollte. Es lag etwas wie Revolutionsstimmung in der Luft. In der Kunst quasi offiziell. Neben der Grossen Berliner Kunstausstellung mit ihren über 2000 Nummern öffnete die kleinere aber gewichtigere Ausstellung der Berliner Sezession ihre Pforten, die mit den berühmtesten Namen aufrückte: Liebermann, Corinth, Slevogt. Hier hatte ich auch die Freude, einem Schweizer zu begegnen: Ferdinand Hodler. Nicht genug mit dieser Demonstration gegen die traditionelle Kunst war noch eine dritte Gemäldeschau zu geniessen, die Juryfreie, die nun ihrerseits die beiden andern Ausstellungen durch dilettantisches oder monströses Gebaren in den Schatten zu stellen versuchte. Doch bst!, wer weiss, ob nicht gerade in jener Juryfreien zum ersten Mal einer jener Namen auftauchte, die laut Kunstgeschichte dazu berufen waren, die stolzen Koryphäen jener Zeit wenn nicht ganz auszulöschen, so doch ins vergangene Jahrhundert zurückzuwischen. Aus diesen Kreisen mag das eine Manifest stammen, das mir damals in die Hände gespielt wurde und in hochfahrender Sprache alle bisherige Kunst in Grund und Boden verdammte und alle Museen angezündet haben wollte. Weniger klar und logisch schien, was Neues an Stelle des Alten treten sollte. Schade, wirklich schade, dass mir dieses Dokument verloren ging! Es wäre doch interessant, Punkt für Punkt ihr Programm mit dem Resultat zu vergleichen… Ist’s etwa so gegangen wie bei den politischen Revolutionären, die heut nach bald 50 Jahren kommunistischen Regimes noch immer auf die Erfüllung der Schlagworte jener Zeit warten: Abschaffung des Militärs, Verteilung aller Vermögen, gleicher Lohn für Alle und Freie Liebe etc.

Zwei Museen von Weltrang zogen mich immer wieder an, das Kaiser Friedrich-Museum mit Werken alter Kunst und die Nationalgalerie mit Gemälden und Plastiken des 19. Jahrhunderts. Nicht mit dem Auge des zukünftigen Malers sondern mit dem Verstand des angehenden Kunstgeschichtlers habe ich sie immer wieder durchstöbert. Oder ist diese Feststellung vielleicht doch etwas zu kategorisch? Galt nicht mein Interesse besonders den deutschen Romantikern von Runge bis Thoma? Lassen wir solche Fragen noch offen, bis sie sich von selber stellen! Und das dürfte noch einige Zeit lang nicht der Fall sein! Ebensowenig scheint mir, dieweil ich das Kapitel Berlin schliesse, ein Résumé über diesen meinen ersten Zusammenputsch mit der grossen Welt und meine Erfahrungen nötig. Es sollte ein Anfang sein, selbstständig zu werden, nicht mehr. Dafür genügten 13 Monate vollständiger Unabhängigkeit.

Ich benützte als Begründung meiner Abreise die Tatsache, dass ich meinen Wiederholungskurs in der Schweiz absolvieren wollte. In aller Bescheidenheit glaube ich, dass man mein Weggehen im Geschäft nicht wenig bedauert hat. Es gab natürlich noch einen grossen Abschied von den fröhlichen Kollegen mit der offiziellen und pathetischen Übergabe eines schön abgefassten Dokumentes durch den Meester, in welchem die sämtlichen Huren Berlins dem Keuschen Joseph bestätigten, dass all ihre Verführungskünste umsonst gewesen seien.