Dorfschul­meister

1. Teil: Amt und Ämtchen 1920–1929

Ausschnitt aus der Autobiographie

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Als ich mich an einem schönen Herbstabend des Jahres 1920 der Schulkommission in Linden vorstellte, hing mein Schicksal nur an einem schwachen Faden. Es handelte sich um die provisorische Besetzung der Gesamtschule Otterbach. Erst später erfuhr ich, dass meiner Wahl mit 4 gegen 3 Stimmen ein harter Kampf vorangegangen war und der Herr Pfarrer den Ausschlag gegeben hatte. Es ist doch Ironie des Schicksals, dass die Friedensengel überall Streit verursachen. Der Kampfruf der Gegner war: «Dä passt nid zu üüs ueche!» Und der hätte in Anbetracht meines Vorlebens und meines ostschweizerischen Axioms in dieser weltabgelegenen Gegend eigentlich genügen sollen, mich zu bodigen. Aber diese Bauerngrinde haben ihre eigene Logik, die von Misstrauen gegen ihresgleichen genährt ist. Die Frommen unter ihnen hatten den Verdacht, weil mein Vater Prediger von Beruf war, es gehe wieder einmal gegen die Stündeler und waren plötzlich für meine Wahl, und der Herr Pfarrer, der sonst das Heu mit ihnen selten auf der gleichen Bühne hatte, war unabhängig genug, diesmal am gleichen Strick mit ihnen zu ziehen, so dass meine Wahl noch am gleichen Abend zustande kam. Sie galt natürlich nur provisorisch bis zum Frühling, dann hatte die Bevölkerung über meine definitive Wahl zu befinden.

Paul Gmünder als Dorfschulmeister in Linden (1920–1929)

Wer jene Gruppen von Bauernhäusern an den Hängen des Kerzenbergs sieht, die weiten haldigen Wiesenflächen, nur wenig von Obstbäumen gestört, die Äcker hinauf bis zum Ringgis, die Gärten und Fenster voll strahlender Blumen und dies alles in ein Sonnenlicht gebettet, das intensiver wirkt als unten im Tal und die Menschengesichter bräunt und früh schon furchig macht, wer als Spaziergänger aus der hastigen und lärmigen Stadt heraufkommt, den Kittel auszieht und die freie Luft atmet, gibt sich dem Wahn hin, hier müsste eitel Friede sein und ein Glück, in diesem Paradies zu wohnen. Wer aber, wie ich, 9 Jahre als Schulmeister dort gelebt hat und nicht nur gelebt hat, sondern die Verhältnisse vielseitig miterlebt hat, trägt in der Erinnerung ein andres Bild in sich, ein Bild, das die scharfen Lichter und Schatten kennt, die dieser Höhe eigen sind, und ich müsste schon ein Gotthelf sein, um dieses herbe Bild in Worte bringen zu können, und ich bin doch wahrhaftig kein Gotthelf, sondern glich damals eher dem Peter in den Leiden und Freuden eines Schulmeisters. Ziemlich armselig und unschlüssig stand ich damals zwischen den Streitlagern und bemühte mich, wenigstens in meinem Reich, der Schule, den Frieden zu wahren, und das wenigstens ist mir gelungen.

Ich hatte die beiden ältesten Söhne der Anführer beider Richtungen während der ganzen neun Jahre in der gleichen Klasse und sie sassen einträchtig nebeneinander und waren die besten Freunde, indes ihre Väter sich gegenseitig das Leben sauer machten. Offiziell handelte es sich bei den Kampfgruppen um zwei religiöse Richtungen, die etwa gleich stark waren, von denen die eine der kirchlich ausgerichteten Evangelischen Gemeinschaft angehörte und die andere eine täuferische freie Gemeinschaft war. Die eine hatte ihre Versammlungen im Schulhaus, die andre in einem extra dafür gebauten Sääli. Dogmatisch bestanden zweifellos einige Unterschiede, vor allem in ihrer Einschätzung von Taufe und Konfirmation. Auch hatten die einen einen Prediger, der in Eggiwil wohnte und eine ganze Anzahl von abgelegenen Gemeinden zu betreuen hatte. Die andern, die sich die offenen Brüder nannten, aber anerkannten kein Predigeramt als Beruf und bedienten sich selber, das heisst, zwei bis drei der Häupter nacheinander nahmen das Wort, wie es ihnen der Geist eingab. Sie liessen ihre Kinder nicht taufen und schickten sie nicht in den Konfirmationsunterricht. In der Kirche sah man sie nur bei Abdankungen, wenn das Wetter eine Grabrede im Freien nicht zuliess. Aber grundsätzlich konnten sie eigentlich nicht als aus der Kirche ausgetreten gelten, da sie damals noch die Kirchensteuern bezahlten. Als dritte Kraft amtete der Pfarrer in Linden, der wieder eine andere Richtung verkörperte, das sozialistische Christentum und bei unsern Bauern natürlich wenig Verständnis fand und seine Kirche stets halb leer hatte. Natürlich gab es Familien, wo das eine Mitglied auf die eine Seite zog und das andre auf die andre und auch etliche Einzelgänger, die je nach Lust und Laune hin oder her pendelten oder sich sogar um das ganze religiöse Theater foutierten.

Mir war es von Anfang an ein Herzensanliegen, dieses Gnusch im Fadechörbli zu entwirren und ich kam mir auch in Anbetracht meiner Einstellung und meiner Kenntnisse in den religiösen Belangen als der richtige Mann für diese Aufgabe vor. Leider muss ich gestehen, dass gerade dieser Teil meiner Tätigkeit in Otterbach der unfruchtbarste war, denn als ich Abschied nahm, hinterliess ich jenes Gnusch verzweifelter, als ich es angetroffen hatte, wenn schon unser braver Pfarrherr in Linden eigenhändig mit der Schere dahintergegangen war.

Wenn man hinter einen Fadenwirrwarr geht, muss man zuerst die Fadenenden in die Finger bekommen, und so nehmen wir uns die Exponenten unserer Gemeinschaften erst einmal vor. Oberhaupt der kirchlichen Gemeinschaft war Haldemann Werner, der Präsident unserer kleinen Ortsgemeinde, und dies nicht umsonst, denn er war der geborene emmentalische Dorfmagnat, gegen den ich mir klein und hässlich vorkommen musste. Er war natürlich Dragoner und mit einer der besten Familien in Ausserbirrmoos verschwägert und hatte in allem und jedem grossen Einfluss, was das Wohl der Gemeinde betraf. Er hatte aber auch einen harten Kopf und ich wusste nie ganz sicher, ob er mir so wohlgesinnt war, wie ich anfangs meinte. Sein Gegenspieler im Lager der Offenen Brüder war Blum Gottfried, ein Mann von ganz anderm Charakter, Mitglied der Schulkommission und als solches eher noch wichtiger für mich. Er war allem Neuen aufgeschlossen, was die Schule betraf und mir also eine grosse Hilfe. Im Schulhaus hatte noch nie ein verheirateter Lehrer gewohnt und dies gabs in der Folge zu verbessern, und wenns pressierte, ordnete er von sich aus, was eigentlich über seine Kompetenz ging. Auf ihn konnte ich mich immer verlassen.

Das Leide war nun, dass gerade diese beiden wichtigsten Männer unter sich in einer alten Fehde lebten, die noch von ihren Vätern her stammte und nichts mit ihren Glaubensbekenntnissen zu tun hatte. Mir wurde wenigstens kund, es hätten zwei ihrer Ahnen das gleiche Mädchen heiraten wollen und der ganze Streit stamme noch von daher. Da sie Nachbarn waren, hatte der unterlegene Teil genügend Gelegenheit, dem andern zu leidwerken. Und heute warens die Väter meiner Schüler, die das Streitbeil nicht begraben konnten und wars auch heute nur wegen eines Wegrechts oder eben wegen Glaubenssätzen, ein Weg, um die ganze Ortschaft in den Streit hineinzuziehen. Was konnte ich in der Sache tun, ein Fremder, dem man jede Einmischung von beiden Seiten übel genommen hätte. Das einzig Mögliche tat ich in der Schule und zwar mit einer Entschiedenheit, die mir gar nicht so recht zuzutrauen war. Dort liess ich keine Spur von Unfrieden aufkommen. Und im übrigen besuchte ich die Versammlungen beider Lager, ohne mich zu binden, und die Predigten hörte ich mir gleich gelangweilt an, ob sie vom Berufsprediger oder von den weniger sprachfertigen Bauern stammten. Gewöhnlich sind ja die Texte in der Bibel so klar formuliert, dass jede Auslegung ihre Wirkung nur abschwächen kann. Wer meint, solche Laienpredigten müssten originell ausfallen, war enttäuscht, so selten etwas Persönliches zu vernehmen. Ihre Glaubenseigenheiten kamen kaum je zum Ausdruck, hingegen ergingen sie sich noch mehr als die geschulten Prediger in paulinischen Gedankengängen und in Spekulationen über das Weltende und noch mehr glänzten ihre Bibelkenntnisse. Dabei schüttelten sie ihre Ansprachen zumeist aus dem Ärmel, natürlich in Mundart, durchsetzt mit schriftdeutschen Textanführungen und leider weniger urchig, als sie sonst sprachen. Aber es waren gute Leute, die sogar ihren Sonntagnachmittagsschlaf opferten, um nach ihrer Art Gott zu dienen. Hinterwäldler konnte man sie schon gar nicht nennen, diese Täufer. Gerade ihr Bekenntnis hielt sie in ständigem Kontakt mit ähnlichen Gemeinschaften des Jura und sogar des Auslands. Und sturer in ihren Ansichten über das richtige Christentum waren sie auch nicht als die andern, vor allem nicht als unser Pfarrherr von Linden.

Dieser Herr Pfarrer war die geradste und aufrichtigste Seele, die man sich denken konnte, aber auch der hartnäckigste Kämpfer für seine Idee vom wahren Christentum. Die Gemeinschaften schienen darin keinen Platz zu haben; denn mit der kirchlichen war er schon verkracht, als ich nach Otterbach kam und man sah ihn kaum je in unsrer Ortsgemeinde. Mit den Führern der Täufer hatte er noch kurz vor seinem Weggang eine Auseinandersetzung, die dazu führte, dass diese Gemeinschaft ganz aus der Kirche austrat, worüber er sich sehr befriedigt zeigte.

Dass dieser Austritt die Spannung noch verschlimmerte, ist selbstredend und musste auch meine Schulkinder gar noch in Mitleidenschaft ziehen; denn nun wurde auch die Sonntagsschule zweigeteilt, und wir mussten an unsrer letzten Weihnacht in Otterbach erleben, dass zwei verschiedene Sonntagsschulfeiern durchgeführt wurden.

Doch nun genug des grausamen Spiels! Auch auf einem düstern Hintergrund lässt sich ein heiteres Bild malen. Es fing nämlich direkt idyllisch an. Ein bildhübsches, freundliches Mädchen von zirka 17 Jahren brachte mir die Schlüssel zur Wohnung, kaum dass ich beim Schulhaus angekommen war und zeigte mir Küche, Zimmer, Estrich und Keller, und ich hätte mich sogleich in sie verliebt, wenn mein Herz nicht schon besetzt gewesen wäre. Es war die Tochter unseres Nachbarn Sami Lehmann. Bald kam auch der Wagen mit meinen Möbeln, dem ich vorangegangen war, langsam die Strasse herauf und von rechts und links kamen die Nachbarn, um mein Hab und Gut die schmale und stotzige, abgelaufene Holztreppe hinaufzutragen, so dass ich nur zusehen und den Ort angeben musste, wo die Sachen abzustellen waren. Dann kam auch Blum Gottfried herauf, das Schulkommissionsmitglied, dessen Bruder Albert die Fuhr von Oberdiessbach in mehr als zwei Stunden ausgeführt hatte, führte mich auf den Estrich und erklärte mir, wo das Schulholz lag und wo mein Privates für den Kochherd und die Wedelen für den Ofen, die mir meine Vorgängerin hinterlassen hatte. Er nahm auch gleich von diesen eine herunter, steckte sie ins Ofenloch in der Küche und steckte sie an, damit ich heut Abend schon warm habe. Hierauf ging er mit mir ins Schulzimmer und erklärte mir dort das Nötige. Zuletzt nahm er mich zum Nachtessen mit sich ins Ried hinunter, wo ich anfangs bei seiner Familie zur Kost sein konnte.

Einen solch aufmerksamen Empfang hatte ich in meiner Bescheidenheit wirklich nicht erwartet, und als ich gar am nächsten Morgen zum Fenster hinausschaute in die herrlich freie Landschaft vor mir, die Berge strahlend in der Frühsonne, in seiner ganzen Breite den Sigriswilergrat, darüber die Gipfel der Hochalpen, rechts Gspaltenhorn, Blümlisalp und Doldenhorn, Altels, Balmhorn und Niesen und ganz aussen die Stockhornkette, da jubelte es in mir. Und als dann die Sonntagsschulkinder auf den Schulplatz kamen und ich ihnen die Hand gab und sie mich mit scheufragenden Augen anblickten und ihr «Grüesti, Lehrer» murmelten, da lachte mir das Herz und ich dachte: «Die werden mich bald anders ansehen!». Am selben Tag lernte ich auch die Erwachsenen meiner Nachbarschaft kennen. Sie sagten etwa: «Das wird däich der nöi Schumeschter si, wie düecht es di hie obe?» Und wenn ich einen mit Herr ansprach, hiess es zurück: «Dr Herr isch im Himmel, i bi dr Fritz!» Sie duzten sich alle und sprachen sich mit dem Vornamen an, Männer und Frauen, auch im gegenseitigem Verkehr, und nur der Pfarrer wurde mit Herr und Ihr angesprochen. Über Drittpersonen redete man von Kätis Fritz oder wenn man Geschlechtsnamen brauchte, so stellte man sie vor den Vornamen z.B. Berger Ernst. Ich selber führte für meine Schulkinder folgende Regel ein: Die Unterschüler sagten Du, die Mittelschüler hatten freie Wahl und die Oberschüler mussten mich mit Ihr anreden, nicht um mich zu ehren, sondern dass sie es gebrauchen lernten. Mit dem Sie werden wir uns wohl überhaupt nicht die Finger verbrannt haben.

Und nun sassen sie also vor mir, die 57 Buben und Meitschi, die mir meine Vorgängerin hinterlassen hatte und schauten stumm und unbeweglich nach mir. Sie sassen auf langen primitiven Bänken vor ebenso langen alten und verschnefelten Pulten, je fünf und fünf in zwei Reihen. Die Lehrerin musste anscheinend strenge Disziplin gehalten haben, und das kam mir für den Anfang zugut, wo ich mich einarbeiten musste. Glücklicherweise war mir ja die Arbeit an einer Gesamtschule nicht fremd, ich hatte einen tüchtigen Lehrpletz hinter mir, vom Mai bis August hatte ich als Stellvertreter die Gesamtschule in Meiersmad geführt, freilich nur mit der halben Schülerzahl gegenüber jetzt.

Man hört oft, eine Gesamtschule zu führen müsse ideal sein. Schön ideal! Man versuche nur, einen genauen Plan für einen einzigen Tag aufzustellen! Der Lehrer hat pro Stunde ganze 5 Minuten Zeit, sich mit einer Klasse mündlich abzugeben. Für die übrigen 55 Minuten müssen die Schüler schriftlich beschäftigt sein. Und wann soll der Lehrer alle die vielen Tafeln korrigieren, bevor sie wieder ausgelöscht werden! Nein, die Sache ist schon um einiges schwieriger, als sich die Idealisten vorstellen. Wer Pedant ist, wer sich nicht zu kehren weiss, wer nicht an eine Menge Dinge gleichzeitig denken kann, z.B. den Unterschülern die Rechnungen nachsehen, während er Geschichte doziert bei den Grossen, der soll besser die Hände davon lassen. Am schwersten ist, sich des Gefühls eines Unbefriedigtseins zu erwehren und sich mit dem bescheiden, was nützlich und erreichbar ist. Höchstleistungen erreichten meine Schüler im Rechnen, in der Geographie und im Gesang, da konnte ich mit der Oberklasse in Linden ohne weiteres konkurrieren. Dass sie in der Religion gut zu Hause waren, ist bei dem zu Anfang des Kapitels Gesagten selbstverständlich, so dass sie jeden nicht versierten Lehrer aus dem Sattel gehoben hätten. Sie brauchten nicht die bernische Kinderbibel, sondern die Lutherbibel, und das war mir auch recht. Einmal haben sie mich aber doch in Verlegenheit gebracht, nämlich als wir die Geschichte von Joseph und Potiphars Weib behandelten. Da ich annehmen konnte, dass sie den meisten bekannt sei, liess ich sie vorsichtigerweise durch meinen besten Schüler, einen aus der Täufergilde, erzählen, und der gute Hans legte sie hin, in Dialekt, genau übersetzt nach dem Wortlaut der Bibel. Niemand muckste, aber ich habe die heikle Stelle später doch jeweilen selber erzählt.

Paul Gmünder in der Studierstube (1920–1929)

Der Gesang war für uns kein Nebenfach, und ich merkte bald, dass ich von der ganzen Bevölkerung in dieser Ansicht unterstützt war. Meine Buben sangen mit Begeisterung ihre zweite oder dritte Stimme, alles kannte die Noten nach dem Do-re-mi-System, und ich liess die Schüler meist selbst anstimmen, indem ich das Stimmgabel-A gab. Ich verlangte absolute rhythmische Sicherheit, besonders im Einhalten der Pausen und liess stets Text und Stimmen auswendig lernen. Auf die Schulreisen hin trainierte ich, dass sie ohne mich richtig anstimmten und auch ohne Taktstock in straffem Rhythmus sangen. Mit dem Können kam natürlich der Stolz, und ich erinnere mich noch heute an eine Schulreise nach Interlaken, wie sie, da es regnete, in der Kajüte mit einer Sekundarschule konkurrierten. Ich selber blieb oben an der Stiege. Nach drei Liedern gab die andre Schule auf und das brachte meine Zöglinge erst recht in Schwung, und als sie heraufkamen, wussten sie sich vor Begeisterung nicht zu halten: «Mir hei sie möge, mir hei sie möge! Sie hei’s selber gseit u sogar ihre Lehrer het’s gseit!»

Den Gesang betrachtete ich als mein wichtigstes disziplinarisches Mittel, disziplinarisch natürlich nicht ganz im militärisch stupiden Sinn, aber doch als Forderung einer strengen Einordnung in eine Gemeinschaft, Einordnung zum Zweck einer Gesamtleistung.

Ist es nicht betrüblich, dass unsere Schule so wenig Möglichkeiten zulässt, in der Erziehung zu einer sozialen Einstellung etwas Rechtes zu leisten? Es ist paradox, dass der Lehrer zwar predigt, dass die Menschen einander helfen sollten, nämlich die Starken den Schwachen, dass in der Schule aber dieses Prinzip nicht gilt. Vielleicht nicht einmal in pädagogischer Einsicht, sondern durch die Verhältnisse gezwungen, habe ich diese Hilfe der besseren Schüler, auch wenn die Ordnung darunter litt, gern gesehen und oft sogar befohlen. Vielleicht war das mit ein Grund, warum bei mir nicht die Buben, sondern auch die Mädchen im Rechnen einen solchen Eifer entwickelten, dass ich oft geradezu bremsen musste. Sie wollten unsre anspruchsvollen Oberklassrechenbüchlein absolut zweimal von A–Z durchrechnen, und die Schulkommission beklagte sich, dass wir zu viel Hefte brauchten.

Umso böser sah es bei mir im Sprachunterricht, Lesen und Aufsatz aus. Da waren gewöhnlich nur einige Mädchen, die an die Leistungen einer guten Schule herankamen. Wie hätte es auch anders sein können! Das Schriftdeutsch war eine Fremdsprache für sie, und wer wollte in einer Fremdsprache literarisch etwas Erkleckliches leisten! Zudem waren die meisten so wenig redselig wie ihre Väter – und war die Sprachfertigkeit wirklich so wichtig für meine Bauernkinder? War es nicht besser, sie so vorzubereiten, dass sie der Landwirtschaft treu blieben? War anzunehmen, dass die gleichen Bubenhände, die Stallbesen und Sense zu reparieren wussten, den dünnen Federhalter und den Bleistift ebenso gut beherrschen würden? Nein, mit ihren Schriften und Zeichnungen konnten sie weniger glänzen, man kann nicht den Fünfer und das Weggli zugleich haben, und ich freute mich mehr und war stolz auf meine Zöglinge, wenn ein Vater sagte: «Üse Fritz macht si, un är isch mir scho fei e Hülf!», als wenn ich ihm selber eine gute Note ins Zeugnis eintragen konnte. Und es kam dann auch gar nicht so selten vor, dass einer bei mir wenig leistete und daheim es hiess: «Emel zum Wärche isch er guet!» und ich hinzufügte: «U das isch zletschtemäng d’Houptsach!». Ich bin auch ein wenig stolz, dass fast meine sämtlichen Schüler dem Bauernstand treu geblieben sind, dass sie nicht nur heute in Otterbach den Ton angeben oder sonst irgendwo im Bernbiet ein Heimet haben, sondern im Welschland, im Thurgau und Zürichbiet zeigen, dass man mit dem Bauernberuf auch heute noch fürcho kann und sie von der Schule nicht verpfuscht wurden wie andernorts.

Was noch die Realfächer anbetrifft, so brachten wirs in der Geographie am weitesten. Die Bernerkarte und teilweise auch die Schweizerkarte hatten wir so gut im Kopf, dass sie nicht nur alles vereinfacht an die Wandtafel skizzieren konnten, sondern dass wir ohne Karte die schwierigsten Reisen per Eisenbahn und über die Pässe im Kopf ausführen konnten. Es war so etwas wie ein Sport und Spiel, das wir fast zum Spass trieben und wo unsere Meitscheni mit dem gleichen Eifer mitmachten wie die Buben. Der praktische Teil waren dann die Schulreisen und Turnfahrten. Sie sind zum Teil sogar mir zum Erlebnis geworden, trotzdem ich jedes Mal aufatmete, wenn ich mein Gschäärli wieder heil daheim hatte. Die Turnfahrten waren meine eigene Erfindung. Sie waren für die Oberklasse gedacht, doch durften gute Läufer aus der Mittelschule mitmachen. Es waren äusserst anstrengende Marschleistungen, z.B. Otterbach–Schwarzenegg–Meiersmad–Blume–Oberhofen–Thun–Heimberg–Aeschlenalp–Linden–Otterbach, wobei der anstrengendste Teil auf den Schluss kam und manche Schüler bis zu Hause noch eine halbe Stunde zusetzen mussten.

Eigentlich am wenigsten von allen Schulfächern befriedigte mich meine Schweizergeschichte. Ein wenig Schuld mag die Zeit gewesen sein so kurz nach dem ersten Weltkrieg, wo man allgemein genug hatte von dem Hurra-Patriotismus, wie er als Tendenz unsern Geschichtsbüchern zu Grunde lag. Es wird überhaupt kaum möglich sein, das komplizierte Gebilde unsrer Vergangenheit so vereinfacht wiederzugeben, wie es für die Volksschule von Not wäre, ohne es zu verfälschen. Und wenn der Lehrer selber keinen rechten Glauben hat, wie sollte sein Unterricht bei den Schülern einschlagen! Deswegen hat jeweilen unser Feuer am 1. August ebenso erhebend geflammt, und wir haben gesungen, zuerst die Schulkinder und dann bis in die Nacht hinein noch die Grossen, und wir brauchten nicht einmal einen Redner.

Fast hätte ich ob dem Plagieren meine bescheideneren Freuden vergessen, diejenigen nämlich, die mir meine Erst-, Zweit- und Drittklässler bereiteten. Wie gern setzte ich mich zu ihnen auf das Pult und erzählte ihnen eine Geschichte oder rechnete mit ihnen. Aber ich hatte entsetzlich wenig Zeit für sie und musste sie oft auf den Schulplatz schicken und den Monitoren überlassen. Und doch waren sie mir schon vom ersten Tag an, wo sie noch so scheu an der Hand ihrer Geschwister dahertrippelten, ans Herz gewachsen. Hie und da war eins, das ich ein paar Wochen kaum anschauen durfte, geschweige denn ansprechen; aber dann auf einmal war das Zutrauen da, und es lächelte mich an. Und welchen Fleiss und Eifer sie entwickelten, wenns ans Lesen, Schreiben und Rechnen ging! Mit rührender Aufmerksamkeit lugten die grossen Mädchen zu ihnen, auf dem Schulweg und während der Pausen. Unser Schulplatz war viel zu klein und dazu noch dreieckig, fast für jedes Spiel ungeeignet. So spielten die Buben zumeist Fangen, Tschigglis, wie sie es nannten. Dabei rannten sie auf dem ganzen Platz herum und überrannten leicht die Kleinen. Ich selber musste meist die Tafeln während der Pause korrigieren und war froh, wenn die grössern Mädchen ein Kreisspiel mit den Kleinen machten. Die Geschwister spielten sowieso nicht gerne zusammen. Die grossen Buben glaubten, dass es unter ihrer Würde sei, mit den Mädchen zu spielen, und umgekehrt waren den Mädchen die Buben zu ruch. Sie waren auch wirklich ruch, und ich musste ihnen das Stauchen mit den Holzschuhen wegen der Verletzungsgefahr rundweg verbieten. Eigentlich streitsüchtig waren sie nicht, aber beim einen und andern war das Feuer doch etwas rasch im Dach und es liess sich nicht vermeiden, dass sie hie und da aneinander gerieten. Es ist mir aber durch einen harmlosen Trick gelungen, solche Streitigkeiten im Keim zu ersticken. Ich stellte meinen Schülern bei einer passenden Gelegenheit vor, wie übel es sich mache, wenn sich zwei vor Zuschauern streiten. Sie sollten sich wenigstens abseits machen und ihre Handel austragen. Weil ich sie aber in der Pause meist nicht überwachen könne, so sollten sie von selbst, sobald sie aneinander gerieten, das Schulzimmer aufsuchen, um die Sache zu bereinigen und wenn sie nicht wollten, sollten sie von den Mitschülern dazu gezwungen werden. So wars denn gar nicht selten, dass plötzlich so zwei Streitgüggel bei mir erschienen. Ich entfernte mich sofort, indem ich sie anwies, sobald sie einig seien, herauszukommen und es mir zu sagen. Nun ist es ja selbstverständlich, dass so Buben ihre Pause nicht gern opfern, und es ging gewöhnlich kaum zwei Minuten, so kamen sie heraus, sie seien wieder einig. «Was isch denn gsi?» fragte ich. Wenn sie sich dann aber beim Erzählen übers Maul fuhren, erklärte ich: «Dihr sid jo gar nit eenig, dihr weit mi für e Löhl ha!» Wenn sie mir dann die Sache so erzählen, dass es beiden recht sei, dann erst seien sie einig. Vor der Türe konnte ich darauf hören, wie sie nun darüber berieten, was sie mir angeben wollten, und ich konnte sicher sein, dass der Streit geschlichtet sei.

Ein anderes Mittel, das mich vom Strafen entlastete, war unsre Schulkasse, in der Hauptsache eine Bussenkasse. Es gab da verschiedene kleine Vergehen, die mehr der Unachtsamkeit, als dem bösen Willen zuzuschreiben waren, und die zu ahnden ich doch immer wieder gezwungen war, trotzdem mir das ständige Nörgeln zuwider war. So gründeten wir also eine Bussenkasse. Dies liess sich grade noch mit einem bescheidenen staatsbürgerlichen Unterricht verbinden. Wir gründeten also eine Art Verein zur Verwaltung der Bussenkasse und es wurden ein Präsident und ein Kassier gewählt. Ich selber behielt mir nur die Oberaufsicht vor. Verboten war z.B. das Schnefeln an den Schulpulten, um die es eigentlich gar nicht schade war und die so sehr zum Weiterschnitzen reizten, dann das Einsteigen und Aussteigen durch die Schulzimmerfenster oder das Betreten der Wiese, die an den Schulplatz grenzte, das immer wieder zu Reklamationen Anlass gab. Auf all das brauchte ich von da ab nicht mehr zu achten, denn Schüler hatten ein scharfes Auge und besonders der Kassier, der sich keinen Fünfer entgehen lassen wollte. Übrigens kam es nicht selten vor, dass Schüler freiwillig sündigten, um der Kasse etwas zu spenden oder um mit ihren Finanzen zu plagieren. Anstände wurden in der Gemeindeversammlung erledigt, und das Geld zu einem Beitrag an die Kosten der Schulreise verwendet. All dies setzte natürlich eine gute Dosis von Bereitwilligkeit der Schüler voraus und schlaue Regie von meiner Seite, dass nichts überspannt wurde.

Das wichtigste Ereignis in jedem Schuljahr war natürlich das Examen. Drei Tage zum voraus wurde das ganze Schulzimmer gewaschen. Am Vorabend verzierten die Schüler es mit grünen Girlanden und steckten bunte Papierblumen hinein. Das machte sich etwas kitschig, gab aber dem ganzen eine unbeschwerte Note. Nie kamen die Kinder ähnlich sauber und wohlgekleidet in die Schule. Wie manches neue Röcklein und Schürzlein ist daraufhin fabriziert worden und auch die strubsten Buben kamen ordentlich gewaschen und gekämmt daher. So ein Examen auf dem Land ist Theater und Realität zugleich, und wenn es gelingen soll, muss der Lehrer Ernst und Spiel richtig zu mischen verstehen. Erst wenn ihm das gelingt, hat das Volk seine Befriedigung und sind auch die Schulkinder überzeugt von ihrer Leistung. Da von uns Lehrern gewünscht wurde, dass wir die Examen auch unsrer Kollegen in der ganzen Schulgemeinde besuchten, lernte ich an ihren Fehlern die rechte Mittellinie finden und hatte jeweils die Schulstube bis zum Bersten voll Publikum. Vorn rechts bei den Wandkarten sass jeweils, quasi als Kampfgericht, die vollzählige Schulkommission um einen Tisch, beladen mit Heftenbeigen und Bergen von Zeichnungen. Diese armen Mannen hatten innerhalb von drei Tagen alle 6 Examen der Schulgemeinde durchzustehen oder besser –zusitzen, waren anfangs recht aufmerksam dabei, aber wurden mit jedem Tag gnietiger ob den ungewohnten geistigen Strapazen und dem ungewohnten Sitzen. An uns Lehrern lag es, Stoffe zu wählen, die auch die Erwachsenen interessierten. Ich machte es so, dass ich vorher einiges, was in Frage kommen konnte, mit den Kindern gründlich repetierte und das Geeignetste auswählte, ohne den Schülern genau anzugeben, was drankam, so dass sie in einer gewissen Spannung waren. Meine Regiekunst bestand dann darin, dafür zu sorgen, dass die Antworten flüssig kamen und auch die Schwächeren ihren bescheidenen Beitrag zum Gelingen leisten konnten. Kleine Betriebsunfälle dienten zur Belebung und Erheiterung. Nach einer Pause, in der die Kinder ihre Batzen den Krämlifrauen auf dem Schulplatz opferten, kam der zweite Teil, Gesang und Aufführungen. Wie manches frohe Theaterstück im Dialekt oder Schriftdeutsch habe ich dafür geschrieben und dafür gesorgt, dass alles vom Kleinsten bis zum Grössten mitmachen konnte, die Rollen zumeist auf den Leib geschrieben, z.B. einen Faulenzer nur mit Schnarchen beschäftigt. Die Themen waren oft aktuell. Als in der Kürze ein Kramladen aufgemacht wurde, liess ich alle Waren durch je einen schnurrigen Vers Reklame für sich machen. Einmal griffen wir gar hoch, indem die Grossen die Apfelschussszene aus Schillers Wilhelm Tell aufführten, natürlich auch besonders geübt hatten, und der Gessler mit seiner krächzenden Stimme war nicht zu überbieten. Zudem hatte er eine herrliche weisse Hahnenfeder auf dem Hut, die er extra zu diesem Zweck ihrem Gockel aus dem Schwanz gerupft hatte. Noch lange nachher wurde von dieser Aufführung als von einem ganz ausserordentlichen Ereignis gesprochen. Wenn wir fertig waren, hielt einer von der Schulkommission noch eine kurze Manöverkritik und verteilte die Examenbatzen, zwischen 20 und 50 Rappen pro Schüler, je nach Klasse, und ich verteilte die Zeugnisse und sagte meinen austretenden Zöglingen mit bewegtem Herzen adieu. Jetzt kam die Schulkommission zu uns in die Wohnstube herauf, um sich bei einem Zvieri zu erholen. Von den Einheimischen waren Zopfbrot, Schinken und Wein gespendet und meine Martha sorgte für Kartoffelsalat und Tee. Dass wir die günstige Gelegenheit benützten, um die Mannen auf gewisse notwendige Verbesserungen in unsrer Wohnung aufmerksam zu machen, natürlich nur so nebenbei, sei ebenso nebenbei gesagt.

Doch lassen wir’s einstweilen damit bewenden, werden wir doch noch später, wenn ich von der Familie erzähle, Gelegenheit haben, auf dies und jenes zu stossen, was meine Schule betrifft und sich doch nicht einordnen liess, und kommen wir auf das vergnügliche Thema Nebenämter eines Dorfschulmeisters zu sprechen. Es heisst ja, der Lehrer könne da noch allerhand nebenher verdienen.

Gleich von Anfang an musste ich das Wohnsitz- und Burgerregisterführeramt übernehmen. Trotzdem es nur mit 20 Franken im Jahr dotiert war, lehnte ich es nicht ab, weil es mir einen Einblick in gewisse Gemeindeverhältnisse gab. Mit den ortsansässigen Burgern war nicht viel los, eine einzige Familie, die auswärts verarmt war, verkörperte das, was man anderorts die stolze Burgerschaft nennt. Der Vater war Mauser und arbeitete nur, wenn es ihm beliebte, die Mutter half im ganzen Dorf beim Waschen und war ein richtiges Waschweib, und die Kinder waren fast alle bei den Bauern verdingt. Sonst hatte ich mit den Burgern nur schriftlichen Verkehr, wenn sie nämlich einen Heimatschein brauchten. Nur ganz wenige Familien lebten in der Schweiz, das Meiste kam aus Ostpreussen aus der Gegend von Elbing, wohin einmal eine grössere Auswanderung gewesen sein muss. Von einem Burger, der es in der Schweiz zu Ansehen gebracht hat, werden wir später hören. Der Burgerrodel stammte aus der Zeit um 1800 und gab über gewisse Dinge Aufschluss. Da stand z.B. hinter verschiedenen Namen die Bezeichnung Täufer, was beweist, dass es diese Art Gemeinschaften in unsrer Gegend schon früher gegeben hat. Auch fiel auf, dass für die Mannsbilder eine Anzahl von Namen aus dem Alten Testament wie Abraham etc. verwendet wurden, die heute auch in frommen Kreisen nicht mehr anzutreffen sind. Auffallend war, dass fast jede Familie dieser ersten Generation uneheliche Kinder eingeschrieben hatte, während zu meiner Zeit nur ihrer zwei und noch dazu aus der gleichen Familie waren. Viel hat diese Feststellung damit zu tun, dass das Runden und Fensterlen aus Gotthelfs Zeiten aus der Mode gekommen war. Das Wohnsitzregister gab mir anfangs eine Menge Arbeit, da viele ausgewanderte und verschollene Personen nicht gelöscht waren und ich Ordnung in meinen Büchern haben wollte. Für diese langwierige Sache bewilligte mir der Gemeinderat auf mein Ansuchen um eine Extraentschädigung ganze 10 Franken. Aber ich lernte auch da einiges über die Organisation des bernischen Wohnsitzwesens, von dem ich keine blasse Ahnung hatte. Nur einmal ist mir ein Fehler passiert, der für die Gemeinde hätte unliebsame Folgen haben können, aber sie zum Glück doch nicht hatte. Wenn es um die Finanzen ging, waren sie heillos empfindlich, und ich konnte mich glücklich schätzen, dass ich just krank war, als man mir die Gemeindeschreiberei anhängen wollte. Sie hatten mir nicht einmal die Hälfte des Salärs angeboten, das sie dann dem Gemeindeschreiber in Linden bewilligen mussten.

Hingegen kam ich um ein andres Ämtchen nicht herum, das mir 50 Franken pro Jahr einbrachte, das des Feuerwehrfouriers. Wenn die währschaften Mannen jeweils am Samstagnachmittag vor dem Spritzenhaus zur Übung antraten, stand ich fortan mit einer schmucken Dächlikappe, die mir nur etwas zu gross war, die Mannschaftsliste in der Hand, stolz neben dem Kommandanten und machte Appell und konnte dann an den Schatten sitzen und das Geld für den Sold parat machen. Aber wer nun glaubt, ich hätte meine 50 Franken zu leicht verdient, der höre weiter, und die Haare werden ihm zu Berge stehn! Das Soldauszahlen war der beglückende Teil meines Amtes, aber der Revers, das Busseneinziehen der bedrückende. Nicht genug daran, hatte ich von allen, die keinen Dienst taten, die Feuerwehrsteuer einzuziehen. Damals gab es – wenigstens bei uns oben – noch nichts von Postscheck, den man der Forderung einfach beilegen konnte. Erst mussten im Amtsblatt zwei Nachmittage publiziert werden, an denen ich mich in einem Gemeindelokal in Linden zum Steuereinzug aufhielt. Nachher hatte ich aber noch immer nicht die Hälfte meiner Batzen beieinander. Von jetzt ab musste ich immer mein Büchlein bei mir haben, wenn ich ausging, weil mich die Leute unterwegs anhauten: «Han i ächt scho zalt?» Im Winter aber stiegen sie uns mit ihren Schneeschuhen auf die Bude, dass Martha ständig aufputzen musste und schimpften, dass sie wegen 1½ Franken den weiten Weg hätten machen müssen, und wenn es Frühling war, hatte ich noch nicht alles und musste auf den entferntesten Högern den Geldeinzieher spielen – alles zusammen für 50 Franken.

Auch dem sogenannt Kulturellen musste ich meinen Tribut entrichten, wie die meisten Lehrer auf dem Land. Der Männerchor Linden brauchte einen Dirigenten, und wer war geeigneter als ich! Nach meinen musikpädagogischen Erfolgen mit meinen Schülern stach mir diese Sache in die Nase, und ich sagte zu. Wie oft bin ich hernach des Nachts bei Sturm und Wetter zur Linden gepilgert und wieder zurück! Wohl mag es scheinen, dass der musikalische Erfolg die Mühe nicht lohnte; denn unser Chor ist nie berühmt geworden. Er musste froh sein, jährlich einmal in der Kirche gastieren sich zu wagen, im Winter, wie es Brauch ist, ein Theater veranstalten zu können und im übrigen den Zusammenbruch hinauszuschieben. Dass wir über ein Heb-chleb-Existieren nicht hinaus kamen, lag natürlich nicht an mir. Wenn’s nid am Holz ist, gits kei Pfife, heisst ein alter Spruch, und bei uns fehlte es wirklich am Holz, das heisst, an den guten Stimmen. Wir hatten unter dem Dutzend Sängern wohl zwei gute Bässe, den Posthalter und den Schmied, richtige Steinkohlenbässe, aber keine einzige Tenorstimme von Klang. Die Situation war also schon in dieser Beziehung selbst für ein Dirigentengenie hoffnungslos. Dazu kam, dass meinem Verlangen, ihren rauhen Stimmen ein wenig Kultur beizubringen, heftiger Widerstand entgegengesetzt wurde. «Das Piano isch de nüt für hie obe! bi-n-üs muess es gah wie ne Chut!» sagte mir einer schon am ersten Tag, und viel geändert hat sich ihre Einstellung bis zum letzten Tag nicht. Dafür waren dann die Pausen umso gemütlicher, wo jeder seinen Stumpen oder seine Pfeife ansteckte und genebelt wurde, dass man sich kaum mehr sehen konnte. Da hörte man, was zur Zeit in der engern und weitern Welt los war oder erzählte sich Stücklein aus dem Militär, bis ich resolut meine Pfeife einsteckte und sagte: «Mir sötte deich widr alah!» Es mag wundern, dass es unser Männerchor Linden selten auf mehr als ein Dutzend Mann brachte. Man hört sonst immer darüber jammern, dass die Männerchöre den gemischten Chören die Männer rauben – bei uns war die Situation augenscheinlich umgekehrt: Die verschiedenen Chörlein der Gemeinschaften absorbierten fast alle besseren Sänger der Gegend. Sie boten verschiedene Vorteile, die grössere Nähe von zuhause, das beliebtere Singen in gemischten Stimmen, das viel häufigere Auftreten vor dem Publikum und nicht zu vergessen die Möglichkeit der jungen Leute beiderlei Geschlechts, sich zu treffen, ohne dass es auffiel oder verpflichtete, sogar abends sich heimzubegleiten. Ihre Leistungen im Singen übertrafen aber unser Niveau auch nicht, trotz des bessern Stimmmaterials, da sie in der Liederauswahl versagten, während ich immerhin das gute Volkslied pflegte und mich damit wenigstens nicht an der Kunst versündigte für die 50 Franken Jahresbesoldung.

Und ein sogenanntes Ehrenamt betreute ich auch über Jahre hin, d.h. ein Amt, wo man die Ehre hat, die Arbeit unentgeltlich zu leisten. Es war mir freilich nicht in die Wiege gelegt, dass ich einmal einstimmig zum Sekretär einer Schützengesellschaft gewählt werden würde, denn bisher hatte ich noch nie eine Patrone verschossen, die mir nicht das Vaterland zwecks Erfüllung der Wehrpflicht gratis gespendet hatte. Ich war also nichts als ein sogenannter Mussschütze, aber dies gerade sollte mir zum Verhängnis werden. Der Feldschützenverein stellte uns Mussschützen nämlich eines schönen Tages freundeidgenössisch vor die Türe oder genauer, er ersuchte uns unter Verdankung der nicht geleisteten Dienste, aus ihrer illustren Lorbeersammelgesellschaft, in die wir tatsächlich nicht passten, den Austritt zu nehmen und einen eigenen Verein zu gründen. Aber wir erklärten, sie könnten uns nicht usegheie, das wäre ungesetzlich. «Gut, dann treten wir aus!» entschieden die andern, und der ganze Harst trottete hinüber in die Wirtschaft und liess uns paar Manneli im Gemeindelokal zurück. Man sieht, dass bei uns nebenaus auch Leute sind, die etwas von der Politik verstehen und wissen, wie man die Gesetze umgeht. Nach dem ersten Chlupf rappelten wir uns zusammen, und ich muss gestehen, wir waren nicht einmal so unglücklich, denn wenn wir in der Schweiz Gelegenheit haben, einen neuen Verein zu gründen, sind wir nie unglücklich. Wir berieten also über den Taufnamen, denn das ist nach einer glücklichen Geburt die erste Sorge. Mussschützengesellschaft klang nicht gut, Fähnlein der 7 Aufrechten stimmte zwar für heute, aber wir hofften, wie jeder neugegründete Verein, bald grossen Zuzug zu erhalten. Zuletzt einigten wir uns auf den stolzen Namen Militärschützengesellschaft, obgleich wir keinen unter uns hatten, der im Militär eine Charge bekleidete. Die grössten Schwierigkeiten schufen die Wahlen, weil natürlich keiner nun plötzlich Zeit und Kraft für eine Sache aufbringen wollte, um die er sich bislang möglichst foutiert hatte, und so wurde ich also zum Sekretär bestellt. War es nicht fast tragisch, dass ich nunmehr all die Jahre bei den mindestens drei Schiessübungen im zügigen Schützenhaus stehen und die Standblätter ausfüllen musste, ich, der dem eidgenössischen Schiesswesen vorher jährlich nicht mehr als eine Stunde gegönnt hatte?

Aber wie das Tragische leicht in die Nähe des Komischen gerät, so auch hier. Es kam gar nicht so selten vor, dass ich freiwillig ein Gewehr in die Hand nahm und mich vor eine Scheibe legte, die gerade leer war, dass ich mit Berger Hänsu einen Halbliter wettete, wer mehr Punkte machte und das eine Mal gewann und das andre Mal verlor.

Item, fassen wir zusammen: Arbeit und Pflichten brachten diese Ämtchen mit sich, aber auch allerhand nützliche Erfahrungen für mich, und keins möchte ich aus meiner Erinnerung an meine Dorfschulmeisterzeit streichen. Zudem lag bei mir die Gefahr nahe, dass ich über meinen vielen Schulkindern den Kontakt mit den Erwachsenen versäumte. Hausbesuche waren nicht Mode und kamen nur in Frage, wenn man etwas Spezielles zu erledigen hatte. Die Bauern schätzten es zwar, wenn ich im Vorbeigehen ein paar Worte mit ihnen wechselte, aber für mehr hatten sie keine Zeit, wenn schulfrei war erst recht nicht, weil sie dann die Anwesenheit der Kinder ausnützten für besonders schwierige Arbeit. Im ganzen Dorf hatte ja keiner einen Knecht und war jeder auf die Mithilfe von Frau und Kindern angewiesen. Wenn die grössern Buben morgens in die Schule kamen, hatten alle schon Schwerarbeit hinter sich, grasen, vormelken, Stall putzen, die Milch zur Hütte tragen etc. und waren schon müde. Viele mussten ständig das gesetzlich Zulässige in der Schule fehlen (10%), so dass ich im Sommer die Schule fast nie vollständig hatte. Dies noch als Nachtrag zum Thema Schule.

Manches, was ich hier beschrieben habe, mag noch von ferne an die Zeiten Gotthelfs erinnern. Manches hatte einen andern Klang, schon deshalb, weil ich als Schreibender kein Pfarrherr bin, sondern ein Predigersohn und als Lehrer doch nicht der Peter Käser war. Der Lehrer stand sowieso gegenüber dem Bauern jetzt finanziell anders da als damals, da ich doch wahrscheinlich im Dorf der beste Steuerzahler war. Es gab auch besonders unter den jüngern Bauern nicht wenige, die man als schulfreundlich ansehen konnte und die schon damals einen Ausbau der Schule gewünscht hätten, doch darüber später. Wenn ich nämlich im nächsten Kapitel etwas aus dem Privatleben, von der Familie und der Kunst hören lasse, so wird sich dies nicht so von meinem Amt trennen lassen. Ich habe nun das Allgemeine genügend erklärt, sodass ich mich werde verstanden wissen, wenn ich mich aufs Erzählen verlege.